Der Ort schmeckt nach Geschichten.

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  Unmittelbar, und doch subtil, dringen sie in meine Sinne, schon während ich mich in dem kleinen Bad von der Reise erfrische, und später dann die ersten Schritte in die mir unbekannten Gassen lenke.

 

Der Ort schmeckt nach Geschichten
Der Ort schmeckt nach Geschichten

Der Ort schmeckt nach Geschichten.

 

  Ein Hauch von in die Jahre gekommenem Leben weht über dem Pflaster, vermischt mit einen Duft, der nach nichts Besonderem riecht, mir aber fremd und unbekannt in die Nase steigt. Die Stadt ist alt – so alt, dass ihre Mauern mehr wissen, als die Menschen, die durch ihre Straßen streifen. Doch selbst diese wissen immer noch mehr, als ich.

 

  Völlig unbedarft bin ich angereist, überlasse mich, gebe mich dem Ort in die Hände. Leise ist es, während die alte Stadt damit beginnt, sich mir zu offenbaren, mit ihren verwaschenen Schildern über den Läden, den Sprossenfenstern und dem alten Fachwerk.

 

Alte Mauern, abendliche Leere.
Alte Mauern, abendliche Leere.

 

  Immer noch, selbst nach all´ den Jahren, erscheint hier sehr präsent der Umstand des Dazwischen zu sein. Mir kommt ein Gedanke in den Sinn: Ehemaliges, sogenanntes Zonenrandgebiet, gefangen zwischen zwei Welten, vergessen von beiden. Mag sein, ich liege falsch. Doch einiges ist immer noch spürbar. Und ich sehe es auch. Alte Mauern, abendliche Leere.

 

  Vieles wurde längst in die Moderne transferiert. Doch es gibt auch diese Straßenzüge, die sich anfühlen, als wäre die Zeit dort stehengeblieben. Die Stadt hat vielleicht nie ganz den Sprung in die Gegenwart geschafft – und möglicherweise will sie das auch gar nicht. Eine Antwort darauf werde ich in der Kürze der Zeit nicht finden.

 

Einsamkeit wandert durch Arkaden.
Einsamkeit wandert durch Arkaden.

Der Ort schmeckt nach Geschichten.

 

 Die Einsamkeit wandert durch die Arkaden, wo die Winterkälte das Knistern alter Plakate einfriert, und sie verharrt auf den kahlen Holzbänken an der Uferpromenade, von denen aus niemand mehr aufs Wasser blickt. Eine gewisse Melancholie der Vergangenheit haftet an Allem. Der leise Klang einer Geige dringt aus einem offenen Fenster, vermischt sich mit der fernen Stimme eines Passanten, der Irgendwem etwas zuruft.

 

  Meine Kamera in den Händen wird zum Mittel, das Sichtbare und Unsichtbare sichtbar zu machen. Auf der Suche nach Geschichten erhascht mich das fahle Licht, das sich auf einem zerbrochenen Fenstersims bricht. Auch der ausdrucksvolle Blick eines Mannes, und Lampenschirme, die genauso seltsam vor einer Fassade im Wind schaukeln, wie etwas höher die vielen, alten Schuhe. 

 

 

  Menschen, denen ich begegne, bilden das Besondere, denn es sind sehr wenige. Irgendwie steht das für die Stille, die Einsamkeit, die in jeder Ecke zu lauern scheint. Es ist jene Einsamkeit, die ewig nachhallt in den stillgelegten Handwerksbetrieben, deren alte Schaufenster leer sind, geschlossen, verklebt, es gibt nichts mehr zu sehen.

 

Vergessene Augenhöhlen.
Vergessene Augenhöhlen.

 

  Ich glaube zu ahnen, dass es eine Stadt ist, die das Alleinsein kennt, das sich in den leeren Straßen am frühen Morgen oder in den verlassenen Cafés am späten Abend offenbart. Diese Einsamkeit sitzt immer mit dabei an den hart furnierten, alten Tischen. Und sie ist auch dann noch dort zu spüren, wenn so gar nichts mehr von dem Gast erzählt, der längst gegangen ist.

 

Einsamkeit an hart furnierten Tischen.
Einsamkeit an hart furnierten Tischen.
Mittel gegen rauen Ton.
Mittel gegen rauen Ton.

 

 

Und dann ist da immer wieder jenes Gefühl,

fremd zu sein. Ich bewege mich durch die Straßen, beobachte durch den Sucher der Kamera,

doch gehöre nicht wirklich dazu.

 

Umgekehrt scheint es,

als betrachte eher mich die Stadt

mit der stillen Geduld eines alten Wesens,

das sich nicht beeindrucken lässt.

 

Die kurzen Blicke der wenigen Menschen,

die mir begegnen, sind nicht feindselig,

aber auch nicht einladend.

 

Sie sind prüfend, als wollten sie herausfinden,

ob ich nur ein Besucher bin, der bald wieder geht,

oder ob ich die Stadt wirklich verstehen will.

 

Diese Diskrepanz bleibt, genauso, wie das Gefühl,

fürs erste ein Fremder zu bleiben in einer Welt,

die sich nicht darum bemühen muss,

dies zu ändern.

Der Ort schmeckt nach Geschichten.

 

  Man muss nicht ans andere Ende der Welt reisen, um Orte zu finden, die tief berühren, die einen mit ihrer Stimmung umfangen und nicht mehr loslassen. Manchmal reicht es, sich in eine Stadt zu begeben, die nur wenige Stunden entfernt ist. Eine Stadt, die im Schatten der großen Metropolen liegt, aber deren Seele umso eindringlicher spürbar ist. Diese Orte existieren näher, als man glaubt – man muss nur bereit sein, sie zu sehen.

 

  Bestimmt sitzt er immer noch irgendwo, doch ich habe ihn kurz sehen. Der Mann dort, die längst kalte Kaffeetasse in Händen, die er kaum beachtet. Möglicherweise sind seine Gedanken tief und ähnlich woanders, wie die meinen gerade. Vielleicht schweifen sie in eine Jugend, die hier irgendwo zwischen den Gassen und Hinterhöfen ihre Zeit hatte, und noch immer nachhallt. 

 

Zwischen Gassen, Hinterhöfen, und den Zeiten.
Zwischen Gassen, Hinterhöfen, und den Zeiten.

 

  Bestimmt ist es das, was diese Stadt so besonders macht – dass sie einem erlaubt, in der eigenen Einsamkeit nicht verloren zu gehen, sondern sich in ihr wiederzufinden. Mehr als nur einmal stehe ich Gedanken versunken an einem Platz, an dem Stille nicht bedrohlich, sondern tröstend wirkt. Gerade auch in der Dunkelheit, wenn die Lichter der Laternen flackern. Dann, vor allem so völlig alleine, fühlt man sich gerne als Teil eines größeren Ganzen, einer Geschichte, die lange vor einem begann und noch lange nach einem weitergehen wird.

 

Licht & Laternen.
Licht & Laternen.

 

  Die Menschen, die hier wohnen, tragen die Erinnerungen dieser Mauern in ihren Blicken. Ich sehe es ihnen förmlich an. Die Stadt hat sie geformt, wie jede Stadt ihre Menschen formt. Sie hat ihnen ihre Traurigkeit, ihre Nostalgie und ihren leisen, bittersüßen Trost geschenkt. Vielleicht ist diese alte Stadt so geblieben, wie sie ist, um Wirkung zu entfalten. So, wie ein Denkmal für das Verlorene – eine Erinnerung daran, wie die Vergangenheit immer unter der Oberfläche der Gegenwart mitschwingt.

 

Vergangenheit schwingt unter der Oberfläche der Gegenwart.
Vergangenheit schwingt unter der Oberfläche der Gegenwart.

Der Ort schmeckt nach Geschichten.

 

 Es gibt Städte, die einen überschwänglich willkommen heißen. Und dann gibt es solche, die einen leise, still und eindringlich umarmen, und nie wieder loslassen möchten. Diese Stadt hier gehört zu letzteren. Sie wird mich noch eine Weile begleiten – in den leisen Stunden der Nacht, in den Momenten, in denen die Gegenwart sich nach Vergangenheit anfühlt. Und vielleicht, wenn ich noch ein wenig länger durch ihre Straßen wandern könnte, würde sie mir Geheimnisse zuflüstern. So welche, die ich hören darf, und die in einem Bild für immer bewahrt werden dürfen.

 

Der Ort schmeckt nach Geschichten.
Der Ort schmeckt nach Geschichten.

2025 © DT-Classics


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Kommentare: 6
  • #1

    Peter (Samstag, 29 März 2025 09:21)

    Ein tiefer Beitrag, in dem man sowohl die Gefühle für die Stadt als auch die Fotos betrachten darf. Sehr schön geschrieben, Dirk.

  • #2

    Dirk von DT-Classics (Samstag, 29 März 2025 11:42)

    Vielen Dank für deine nette, wohlwollende Resonanz dazu, freut mich ungemein!

    LG, Dirk

  • #3

    Michel Guggolz (Samstag, 29 März 2025 18:51)

    Sie sprechen mich jedes mal an, deine Texte. Ich lese dich einfach gerne lieber Dirk.
    Danke dir und Gruß,
    Michel

  • #4

    Dirk von DT-Classics (Sonntag, 30 März 2025 09:54)

    Wahrscheinlich gibt es nichts Schöneres,
    was man Jemandem sagen kann, der etwas schreibt.
    Ich danke dir von Herzen dafür!

    In aller Freundschaft, Dirk

  • #5

    Bernd (Montag, 31 März 2025 15:56)

    Großartiger Text. Melancholische Stimmung, feine Beobachtungen. Bin dabei länger hängengeblieben. Chapeau!

  • #6

    Dirk von DT-Classics (Montag, 31 März 2025 19:55)

    Lieber Bernd,

    herzlichen Dank für deine Anerkennung, und echt toll, dich hier zu lesen.
    Für deine Slow Photography wünsche ich dir weiterhin eine beseelte Zeit!

    Mit besten Grüßen ins Grazer Land,

    Dirk