Du hast dein Ziel erreicht für heute

2 Kommentare // 

"Großartig, du hast dein Ziel für heute erreicht!"

 

  Irgendwas spricht gut vernehmbar schräg unter mir, und es leuchtet am Handgelenk des Menschen vor mir ein Display hellgrün auf. Jetzt weiß ich, was ich höre. Der Mann, der mit mir in den Bus einsteigt, hat sein Schrittpensum für den Tag bewältigt, und bekommt digitale Anerkennung. Trotz aller Konzentration darauf ist ihm aber nicht verborgen geblieben, dass ich seinen Tageserfolg mitverfolgen durfte.

 

  Mittlerweile selten fahre ich mit Bus und Bahn. Aber das ist ein anderes Thema. Der Fremde jedenfalls lächelt, wirkt dabei leicht verschämt, und hantiert entsprechend seltsam an seiner Sportuhr herum. Verlegenheit, ein gutes Zeichen, zeigt es doch, dass er sich tatsächlich auch etwas komisch vorkommt bei dem, was er da tut. 

 

Street Photography am Bussteig
Street Photography am Bussteig

 

  Aufgekratzt, schon ein wenig ertappt kommt der Typ im Bus mir vor, ich wirke auf ihn wahrscheinlich auch nicht gerade wie ein Verbündeter. Wir sitzen uns dann gegenüber, er spricht mich fast schon rechtfertigend an: „Geschafft, wieder zehntausend Schritte mehr, und Sie, machen Sie auch mit?“ 

 

  Langsam schiebe ich den Jackenärmel hoch, schüttele den Kopf und lächele zurück. „70er Jahre TISSOT automatic“. Ich erwidere, sehr wohl zu gehen, aber nicht zu zählen. Und während ich noch rede, bemerke ich, dass er das schon nicht mehr mitbekommt. Mein Smalltalk-Partner hat einen kleinen Kopfhörer auf, die Konzentration beim digitalen Begleiter. Vielleicht lässt er sich ein Buch vorlesen, oder er hört sich noch ein paar Mal an, wie die Uhr zu ihm spricht:

 

Großartig, du hast dein Ziel für heute erreicht!"

 

Wer fit ist, kann das ablesen.
Wer fit ist, kann das ablesen.

 

  Verstehen kann ich´s ja im Ansatz. Man möchte was tun, sich bewegen, und das ganze kontrollieren. Sportliche Menschen sind alles andere als verrückt, sie leben einfach nur artgerecht. Wir sind vor allem für das Gehen geschaffen. Das dürfen wir mögen. Manche Leute brauchen einen Anschupser, dass es passiert. Also das Mögen, und das Gehen. Manche wünschen sich insgeheim, es würde von alleine passieren, andere sorgen dafür, dass es passiert. Das könnte tatsächlich so eine Uhr sein. Letztlich stellt jeder Mensch seine eigene Grenze dar, über die es sich zu erheben gilt. 

 

  Ich weiß, ich gehöre zur Minderheit. An meinem Handgelenk hängt nach wie vor keine dieser Überwachungsautomaten, die aus Gewohnheiten Algorithmen machen, und zehntausend Schritte zählen. Im dümmsten Fall sinnlose Schritte, zehntausendmal ins Leere getreten. Nun ja, wenigstens die Uhr freut sich. Aber wie sieht es mit uns selbst aus? Motivation bringt uns in Gang, Gewohnheit hingegen hält uns höchstens in Schwung. 

 

Nur nicht stehen bleiben.
Nur nicht stehen bleiben.

 

  Mich hört er jedenfalls nicht mehr. Sonst hätte ich ihm gerne mal erzählt, dass hinter der 10.000-Schritte-Regel keineswegs medizinisch validierte Forschung steckt, sondern schlicht ein sehr erfolgreicher Werbegag. Einer, der exakt so alt ist wie ich, und dem seither Millionen von Leuten auf den Leim gehen.

 

  Olympische Spiele, 1964 in Japan, die Firma Yamasa nutzte den Hype und bringt mit dem "Manpo-kei" (was so viel heißt wie "10.000-Schritt-Zähler") den ersten transportablen Schrittzähler auf den Markt.

 

Gehen hält fit. Auch 9.473 Schritte.
Gehen hält fit. Auch 9.473 Schritte.

 

  Genau 10.000 Schritte, äußerst gesund, Ausdruck eines gesunden Lebensstils, mehr Info sind 1964 nicht drin, doch es reicht bis heute. Wissenschaftliche Studien oder medizinische Untersuchungen brauchte der Hersteller für diese Einschätzung offensichtlich nicht. Der Werbe-Bluff etablierte sich zu einer allgemeingültigen Empfehlung, und selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernimmt ihn völlig unreflektiert. Na, dann los...

 

Großartig, du hast dein Ziel für heute erreicht!" 

 


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Kommentare: 4
  • #1

    Michael Guggolz (Dienstag, 11 März 2025 21:13)

    Lieber Dirk,
    Bruce Chatwin hat gesagt:
    „Wenn ich gehe dann gehts“.
    Er meinte damit und das stelle ich auch an mir selbst fest, dass es ihm dann physisch und psychisch gut gehe. Dass Bewegung zuträglich ist wussten schon die Römer und es ist heute medizinisch bestätigt. Dass man sich von einem „Bordcomputer“ vorschreiben lässt, wann und wieviel man sich bewegt, oder wann und wie lange man zu schlafen hat zeigt, wie sehr man die natürlichen Verhaltensweisen verloren hat. Ok, wenn es hilft….jedem das Seine. Absurd wird das Ganze aber, wenn der Besitzer* einer solchen Uhr dieselbe schüttelt, weil noch 250 Schritte für die vollen 10000 gefehlt haben. Gesehen habe ich das bei einer Power Walking Gruppe. Übrigens kann man sich Blutdruck, Herzfrequenz, Stressfaktor und andere Parameter einblenden lassen, natürlich als Warnfunktion.
    Mit feinem Humor geschrieben dieser Artikel.
    Danke und lieben Gruß,
    Michel

  • #2

    Dirk von DT-Classics (Mittwoch, 12 März 2025 18:18)

    Ja Michel,

    der Entwöhnungsprozess von sich selbst weg scheint nicht als Problem angesehen zu werden. Und es passiert zigfach und täglich.

  • #3

    Werner (Donnerstag, 13 März 2025 13:11)

    Wie wunderbar.... Aus der Zeit gefallen, und daher wunderbar. Ich habe schmunzeln müssen beim Lesen (und was kann uns in dieser Zeit besser helfen?).
    Ich trage nicht einmal eine Uhr am Handgelenk, Nicht mal analog. Na, gut, ich habe dafür auch ein Handy. - wie wohl jeder von uns. Aber: macht das glücklich?
    Gehen kann bereichernd sein: wenn man bei sich selbst ist. Mit seinen Gedanken. Oder eben mit Kamera oder seinem Hund. Da kommen dann oft viele Schritte raus. Wieviel ist am Ende egal. Hauptsache GLÜCK!

    Danke für diesen Perspektivwechsel
    Liebe Grüße,
    Werner

  • #4

    Dirk von DT-Classics (Samstag, 15 März 2025 12:54)

    Danke, lieber Werner!

    Ja, wir sollten aufpassen, was wir alles wie selbstverständlich "aus der Hand" geben.
    Nichts mehr selbst tun zu müssen, ist tatsächlich kein Privileg.

    Beste Grüße in den Kraichgau!