Reise zum Mittelpunkt von irgendwas

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  Spielen wir ein Spiel. Tun wir so, als könnten wir uns vorstellen, in einer Zeit zu leben, in der alles anders war. Vielleicht finden wir heraus, ob dieses Anders besser war, oder schlechter. Oder wirklich einfach nur anders.

  Es ist früh morgens. Kaffee aufbrühen ist nicht mal eben so. Die Bohnen wollen handgemahlen sein, das Wasser muß im alten Kessel zum Kochen gebracht werden. Natürlich, auf einem Gasherd. Mutter streicht ein letztes Mal die Kleider im gepackten Koffer glatt. Das Kaffeewasser brodelt, schnell verbreitet sich das Aroma eines frühen Morgens in der kargen Küche. Aber da ist noch mehr. Reisefieber, jene Sehnsucht nach ungewissem Unterwegssein, es trieft aus allen Poren und Fasern.

  Reisen ist Abenteuer. Vater weiß das. Und er liebt es. All-Inclusive, das bezieht sich in den 60er Jahren nur auf eben jene, alles betreffende Ungewissheit. Der Wohnwagen ist Luxus und Minimalismus zugleich. Er wird für die nächsten Wochen alles sein, auch ihr Zuhause. Bürgertum und Wildheit begegnen sich in diesen Zeiten ohne Back-Up. Kein Navi, keine Satelitenüberwachung, kein Mobiltelefon. Kein Hauch einer Vorstellung dessen, überhaupt von irgendwoher, und vom wem auch immer, unterwegs angerufen werden zu können. Es gibt nicht die kleinste Spur eines Bewußtseins von Erreichbarkeit. Gleich geht es los. Weg heißt einfach weg.

  Es hatte durchaus etwas von "Frei und mutig sein". Selbst im Kleinen. Dass Vater noch ein weiteres Mal den Ölpeilstab herauszieht, beäugt, abwischt, und fast schon zärtlich zurück in den Motor steckt, ist eine kleine Geste zur eigenen Sicherheit. Sowas wie die Garantie, es werde alles gutgehen. Mehr Sicherheiten gibt es auch nicht. Hingegen gar nicht auszudenken, wie die 68er Hippies in Woodstock oder sonstwo zur gleichen Zeit das ganze Sortiment von Pülverchen und Pillchen vor sich ausbreiten, und dann erstmal die Nebenwirkungen googeln. Zum Schreien komisch, und undenkbar.

Um Zeit zu verstehen, ist Gespür wichtiger, als Wissen.

  Aber wir Kinder der Moderne sind so. Das große Abenteuer wird gerne heraufbeschworen, doch wir trauen uns scheinbar nicht mal mehr zu, in Banalem frei zu sein. Statt Listen abzuarbeiten, und doch nie fertig zu werden, statt von einem To-Do zum nächsten zu ackern, und statt im Membership of Multitasking vollends unterzugehen, könnte man auch einfach mal machen! Also alles liegen und stehen lassen, packen und losziehen, meine ich.

  Es geht natürlich nicht den kompletten Highway Nr. 1 hinunter. Auch nicht ein Teilstück dessen. Die Deutsche Ferienstraße reicht, einmal Kopenhagen und zurück, oder auch die große Fahrt über die Alpen zur Adria. Vater und Mutter sind guter Dinge, und positiv unter Strom, ganz gewiss. Hitze, Reisefieber eben, so, dass sich der ganze Körper wie elektrisiert anfühlt. Die Autobahnen sind relativ leer, und es gibt davon nicht ganz so viele, wie man heute denken könnte. Vater raucht genüsslich Overstolz, summt verschmitzt ein Lied von Karel Gott dazu, und Mutter verteilt sparsam ein paar wohlriechende Tropfen TOSCA hinter ihre Ohrläppchen. Und zum Fahrgeräusch eines wundervollen Klassikers, der zu diesen Zeiten längst noch keiner sein möchte, gesellt sich der warme Wind, der zum Fenster herein säuselt.

Es gibt kein Detail, das nicht mit dem Anspruch an Unsterblichkeit entstand.

  Gedanken verselbstständigen sich, aber sie drehen sich nicht um die Frage, wo und wie der Tag wohl enden mag. Wozu mußten sie auch wissen, was sie noch alles erwartet? Warum ist es wichtig, möglichst viel möglichst früh festzulegen? Je mehr Pläne und Ausrüstung, je größer die Furcht vorm Ungewissen. Dieses unbeschwerte, intuitive Freisein ist uns völlig abhanden gekommen. Wir trauen uns einfach nicht mehr. Stattdessen zelebrieren wir götterhaft unsere Aufgeklärtheit und das Abgeklärtsein, nennen uns lässig Overlander oder irgendwie ähnlich cool klingend, und feiern derweil unsere Informationsneurose. Eben Safety First.

Stil. Reisen hatte Stil.

Gesichter. Reisen hatte 1000 Gesichter.

  Längst ist Neuland erreicht. Keine Stelle ist mehr zu sehen, die irgendetwas von Vertrautem aufweist. Durch die Windschutzscheibe fällt schräges Abendlicht. Der Tankwart schiebt seine lederne Schirmmütze schmunzelnd nach hinten, während er die Scheibe mit einem nassen Schwamm von den vielen Fliegen befreit. All-Inclusive halt. So waren alle Tankwarte, und so waren die Zeiten. Viel Ungewissheit, viele Fliegen.

  Mutter gießt derweil den letzten Rest Kaffee aus der Thermoskanne. Ein Hauch lauwarmen Kaffeedufts liegt im Wagen, und vermischt sich mit dem Geruch frischen Treibstoffs. Und auch ein Hauch von Abenteuer liegt in der Luft. Tanken, fahren, tanken, fahren. Wohldann, weiter geht die Reise im guten Gefühl der Unbeschwertheit. Völlig losgelöst vom Allem, zum Mittelpunkt von irgendwas...

Vielleicht finden wir heraus, ob dieses Anders besser war, oder schlechter. Oder wirklich einfach nur anders.

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