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Advent, und immer noch hat es etwas mit irgendeiner "Ankunft" zu tun. Gerade auch in Verbindung mit der langen Dunkelheit geschieht es, dass alle warten. Jeder einzelne wartet. Darauf, das etwas beginnt, darauf, das etwas endet, oder darauf, das überhaupt etwas passiert.
Es ist Sonntag, und es ist wie ausgestorben. Ein bisschen was von High Noon liegt über der Stadt. Die Läden haben zu. Am Bahnhof, wo eigentlich das Leben pulsiert, stehen sich die Taxis die Reifen platt, und am Bahnsteig finde ich kaum Gründe, warum ein Zug halten sollte. So gut wie niemand reist ab, kaum jemand kommt an, und ich sehe auch keinen, der auf irgendwen wartet. Der einzige Mensch am Bahngleis, der gerade irgendwas macht, nämlich fotografieren, bin ich. Und ich komme mir dabei, von wem auch immer, seltsam beobachtet vor.
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Sie hat was mit uns gemacht, diese Zeit, und sie macht es nach wie vor. Wie in Trance, paralysiert, schweben später einige wenige Passanten durch die Unterstadt, und an mir vorüber. Manche von ihnen werden sogar doch noch zu Bahnreisenden. Es fällt auf, dass es nicht jedem gelingt, den Blick zu erwiedern. Manche drehen sich etwas weg. Das Unangenehme eines versehentlich zu langen Anschauens ist dem des versehentlichen Anatmens gewichen. Und manche Gestalt, die mir begegnet, registriert mich erst gar nicht, schaut eher auf den Boden, ist in sich versunken, und in den eigenen Advent.
Ich denke darüber nach, ob es ihnen ähnlich geht wie mir, oder doch ganz anders. Die alles durchdringende Stimmung hier in diesen Stunden ist eng verbunden mit etwas, auf das alle zu warten scheinen. Denn auch die, die nicht am Bahnsteig stehen, sehen trotz aller Stille so unruhig wartend aus. So, als stünde irgendeine Ankunft bevor. Die Menschen sehnen sich förmlich nach einer Lösung, einer Erlösung.
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Die wenigen Leute, die an Stehtischen vor Cafés stehen, treten sich gegenseitig nicht zu nahe, und ich geselle mich auch nur in Gedanken hinzu. Ein schöner Adventsonntag ist es trotz allem, oder vielleicht gerade genau deswegen. Wer hier heute unterwegs ist, dem ist wohl für einen Augenblick gelungen, die Lücke zu finden zwischen denen, die sich zugrunde jammern, und denen, die tatsächlich gerade in großen Schwierigkeiten stecken. Ich schlendere in Gedanken durch die Stadt, lasse die Momente und Situationen auf mich wirken, in der Sehnsucht nach dem, was war, und gleichzeitig nach dem, was kommt.
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Rolf Hollstein (Samstag, 11 Dezember 2021 14:23)
Es ist wichtig, neben der Menge der ständig pessimistischen, dystopischen Beschreibungen in der Presse, hier auch etwas zu finden, was nicht zwingend euphorisch, aber doch hoffnungsvoll bleibt. Mir sagt der Beitrag sehr zu, danke schön!